DIN 32984 Bodenindikator-Leitsysteme optimieren!
Der Fachbeitrag von Dietmar Böhringer macht deutlich, welche Gefahren blinden Menschen auf Bahnsteigen drohen, wie elementar für sie deshalb Bodenindikatoren-Leitsysteme sind und wie wichtig es ist, dass sie exakt normgerecht eingebaut werden.
Barrierefreie Haltestelle nach DIN 32984:2020-12
Abzweigefelder und Einstiegsfelder im Leitsystem für blinde Menschen - Eine Untersuchung mit spannender Vorgeschichte
Im Hinblick auf blindengerechte Gestaltung des öffentlichen Bereiches hatte Stuttgart als eine der deutschen "Pionierstädte" bereits wichtige Projekte realisiert, noch bevor die erste deutsche Norm zu Bodenindikatoren (DIN 32984:2000) in Kraft trat.
So wurden hier u. a. erstmals in Deutschland Einstiegsfelder im Schienenverkehr konzipiert (siehe Abb. 1 und 2), die inzwischen in die Norm aufgenommen wurden. Die Stuttgarter Gestaltung widerspricht aber der Version, die DIN 32984 seit 2011 fordert.
31 blinde Menschen waren 2018 bereit, an einer Untersuchung mitzuwirken, die nach anstrengenden Testphasen drei wichtige Erkenntnisse lieferte:
- Das von DIN 32984 (2011-10 und 2020-12) vorgeschriebene Abzweigefeld in Noppenstruktur stellt die optimale Gestaltung einer Abzweigung dar (s. Abb. 3 a).
- Es muss als inakzeptabel bezeichnet werden, wenn bei Abzweigungen Leitstreifen nur aneinander stoßen (S. Abb. 3 b).
- Ein gegenüber der aktuellen Norm geringfügig abgewandeltes und vergrößertes Rippenfeld stellt die optimale Gestaltung eines Einstiegsfeldes dar (s. Abb. 4 a und b). Dies wurde in die novellierte DIN 32984:2020-12 aufgenommen.
Dass das Begehen von Hochbahnsteigen für blinde Menschen nicht ungefährlich ist (s. Abb. 5), wird anhand aufgelisteter Stürze auf die Gleise belegt. Diskutiert werden Gefährdungen, die durch nicht optimale Bodenindikatoren-Gestaltungen provoziert werden könnten. Am Beispiel von Abzweige- und Einstiegsfeldern werden Vorschläge unterbreitet, in welchen Schritten die nicht normgerechte Bodenindikatoren-Gestaltung einer Stadt oder Region nach und nach in eine normgerechte Gestaltung überführt werden könnte. Anderen Städten und Verkehrsunternehmungen wird nahe gelegt, die enorm positiven Stuttgarter Erfahrungen von Einstiegsfeldern im Schienen-Nahverkehr in normgerechter Weise zu übernehmen.
Weitere Leseprobe
Gefährden fehlende Abzweigefelder an der Bahnsteigkante blinde Menschen?
Wer auf Berliner U- und S-Bahn-Stationen unterwegs ist, wird öfters feststellen, dass in jenen Leitsystemen, die rings um einen Bahnsteig herum verlaufen, Abzweigefelder integriert sind, dass jedoch kein Leitstreifen abzweigt - hin zu einer Treppe (s. Abb. 6 a) oder zu einem Aufzug, was mit dem Abzweigefeld angezeigt wird.
Der Grund dafür findet sich in einer alten Berliner Regelung aus der Zeit vor der Jahrhundertwende: Dem Sinne nach heißt es dort: "Leitstreifen dürfen nie zu einer Absturzkante – abwärts führende Treppe oder Bahnsteigkante – führen". Weshalb diese Forderung? Der Grundgedanke des Leitstreifens ist es, dass sich ein blinder Mensch, der einen Leitstreifen verfolgt, auf eine hindernisfreie Gestaltung verlassen und darauf zügig gehen kann. (Aussage eines blinden Menschen in Stuttgart: "Wenn ich merke, dass ich einen Leitstreifen aus Bodenindikatoren unter dem Stock habe, lege ich einen Zahn zu!") Die damaligen Akteure des Blindenverbandes hatten die Sorge, dass der blinde Mensch an der Gefahrenstelle nicht mehr rechtzeitig "bremsen" und folglich aufs Gleis oder eine Treppe hinab stürzen könnte. Inzwischen hat man – auch in Berlin – erkannt, dass ein gut gestaltetes Abzweigefeld sehr gut "bremst" (s. Abb. 6 b).
Was aber, wenn – wie in Stuttgart - Leitstreifen ohne das bremsende Noppen-Abzweigefeld zur "Absturzkante" führen? Bisher hat sich speziell an jenen nicht normgerechten Abzweigungen noch kein Unfall ereignet. An anderen Stellen der Bahnsteige sind aber sowohl in Stuttgart als auch deutschlandweit nicht wenige blinde Menschen vom Bahnsteig hinab ins Gleisbett gestürzt. (Im Anhang H sind die 41 bekannt gewordenen derartigen Unfälle aufgelistet). In mindestes vier Fällen kam dabei der blinde Mensch ums Leben:
- 2005 Berlin
- 2009 München
- 2013 Stuttgart
- 2017 München
Wie können sich derartige Unfälle ereignen? Blinde Menschen haben schließlich ihren Stock, der ihnen eine abwärts führende Kante anzeigt! Einige Berichte lassen erahnen, welche Nebensächlichkeiten Ursache für einen Unfall sein können - kleine Missverständnisse, Irritationen, fehlerhafte Wahrnehmungen oder falsche Vermutungen:
- Auf den freundlichen Hinweis eines Passanten "Noch ein Stück nach vorne!" (weil der Kurzzug weiter vorn gehalten hatte) vermutete ein blinder Herr, direkt vor ihm hätte sich gerade die Türe der S-Bahn geöffnet, machte ein paar Schritte "nach vorne" und stürzte hinunter aufs Gleis.
- Der Führhund ging im Innenbereich des Bahnsteigs, die blinde Frau ging zu dicht an der Kante, was der Hund nicht richtig einschätzte. Sie stürzte aufs Gleis und riss den Hund mit.
- Ein blinder Herr war der Meinung, mit dem Stock die Stufenkante einer Treppe ertastet zu haben - es war aber die Bahnsteigkante. Bei der erwarteten nächsten "Stufe" stürzte er aufs Gleisbett.
- Ein hochgradig sehbehinderter Mann stürzte ins Gleisbett, weil er – aufgrund der Lärmsituation - beim Erreichen des Bahnsteigs einen auf dem Gegengleis stehenden Zug so wahrnahm, als hätte der Zug an seinem Gleis gehalten.
- Eine blinde Frau stürzte zusammen mit ihrem Blindenhund ins Gleisbett, weil sie davon überzeugt war, ihr Zug warte bereits neben ihr.
- Die Gefahr einer Verwechslung des Kuppelbereichs zweier Wagen mit einer Türe wurde bereits erwähnt (vgl. Abb. 5)
Inhaltsverzeichnis
- Zusammenfassung (Deutsch)
- Abstract (in English)
- 30 Jahre Entwicklungsarbeit der Stuttgarter Straßenbahnen-AG (SSB) im Dienste blinder und sehbehinderter Menschen. Drei Beispiele:
- 1. Pilotprojekt blindengerechte Haltestelle
- 2. Teststrecke für Bodenindikatoren
- 3. Hilfen zum Auffinden von Türen von Schienenfahrzeuge:
- Das "Stuttgarter System", eine Abweichung von der aktuellen Norm
- Erste Testphase: Die Suche nach der optimalen Gestaltung von Abzweigungen
- Zweite Testphase: Die Suche nach dem optimalen Einstiegsfeld
- Diskussion um Gefahren:
1. Zweimal gleiches Rippenfeld: Einstiegs- und Sperrfeld
2. Zweimal gleiches Noppenfeld: U-Bahn-Einstiegs- und S-Bahn-Abzweigefeld
3. Gefährden fehlende Abzweigefelder an der Bahnsteigkante blinde Menschen? - Wie lassen sich die befürchteten Irritationen bzw. Gefahren verhindern bzw. beseitigen?
- Einstiegsfelder haben sich bewährt - bitte auch anderswo übernehmen!
- Anhang: Ergänzungen zu Detailfragen und statistische Nachweise
- A Grundüberlegungen und Anfangsschwierigkeiten des Testverfahrens
- B Statistische Absicherung zur Frage: Wie wichtig ist ein Noppenfeld bei Abzweigungen?
- C Frage: Wurden die Ergebnisse durch "Schlafbrillen" verfälscht?
- D Die mühsame und zunächst vergebliche Suche nach dem optimalen Einstiegsfeld
- E Die Suche nach dem optimalen Einstiegsfeld hat Erfolg!
- F Statistische Absicherung zur Frage: Wie signifikant ist der Unterschied der Beurteilungen zwischen dem aktuellen Norm-Einstiegsfeld (zentrisch zum Leitstreifen liegend) und dem exzentrischen Feld?
- G Statistische Absicherung zur Frage: Wie signifikant ist der Unterschied der Beurteilungen zwischen dem Noppenfeld und dem exzentrisch liegenden Rippenfeld?
- H Bekannt gewordene Stürze blinder Menschen auf Gleise
Der vollständige Fachbeitrag "Bodenindikator-Leitsysteme optimieren!" steht hier zum Download bereit.
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Abzweige- und Einstiegsfelder im Leitsystem für blinde Menschen (ca. 4,5 MB)