Elektromobilität - hören und gehört werden#print

Zu Beginn des Jahres 2018 waren weltweit bereits 3,2 Millionen PKW elektrisch unterwegs. Deutschland hinkt dieser Entwicklung noch deutlich hinterher, dürfte aber 2018 die 100.000 angemeldeten E-Autos überschritten haben. Ein Gewinn für das Klima und die Luft in unseren Städten, und nicht zuletzt reduzieren Elektrofahrzeuge auch den Verkehrslärm drastisch. Letzteres wird für blinde und sehbehinderte Menschen zum Problem.

Elektrobus mit Aufdruck Ich bin eine Stromer

Autor: T. Sauer
Erstveröffentlichung: Wir wollen gesehen werden, Zeitschrift des Blinden- und Sehbehindertenbundes Hessen, Ausgabe 2019

Autos ohne Motorbrummen

Jahrzehnte haben wir uns an die charakteristischen Geräusche von Verbrennungsmotoren gewöhnt. Unser Gehör teilt uns mit, wie weit ein Fahrzeug noch entfernt ist und wie schnell es sich nähert. Durch an- und absteigende Tonhöhe können wir sogar ausmachen, ob ein Fahrer aufs Gas oder auf die Bremse tritt.

Elektromotoren produzieren in ihrem Betrieb kaum Geräusche, und wenn, dann ein hochfrequentes, unangenehmes Heulen. Insbesondere bei geringem Tempo ist das ein Problem. Ist ein Fahrzeug schnell unterwegs, hören wir ohnehin hauptsächlich das Abrollgeräusch der Reifen, das bei niedrigen Geschwindigkeiten kaum wahrzunehmen ist. Es gibt Studien, die belegen, dass Fußgänger wesentlich häufiger in einen Unfall mit einem Hybrid- oder Elektrofahrzeug geraten als mit einem klassischen Verbrenner.

Blinde und sehbehinderte Fußgänger nutzen den Geräuschpegel des Verkehrsflusses zur Orientierung. Wie habe ich mich zur Straße ausgerichtet? Stehe ich richtig für eine gerade, sichere Straßenüberquerung und wie weit ist der Fahrbahnrand noch entfernt? Aber auch an Ampeln ohne akustisches Querungssignal ist es lebenswichtig, den Verkehr zu hören.

Deshalb haben sich Blinden- und Sehbehindertenverbände bereits frühzeitig mit der Frage auseinandergesetzt, welche Maßnahmen notwendig sind, um unsere Sicherheit im Straßenverkehr sprichwörtlich nicht unter die Räder kommen zu lassen.

Warngeräuschsystem für Elektrofahrzeuge

Die Abkürzung AVAS steht für Acoustic Vehicle Alerting System, dahinter verbergen sich Anforderungen an ein künstlich erzeugtes Geräusch, das Fahrzeuge dauerhaft abgeben müssen, um auf sich aufmerksam zu machen und keine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darzustellen. Es muss klar als das Betriebsgeräusch eines Fahrzeugs erkennbar sein, und sich bestenfalls grob an einem Verbrenner ähnlicher Klasse und Bauart orientieren. Es muss sichergestellt werden, dass wir allein vom Geräusch ableiten können, ob ein Fahrzeug steht oder fährt, ob es sich vorwärts oder rückwärts bewegt, mit welcher Geschwindigkeit es auf uns zukommt und ob es gerade bremst oder beschleunigt. Es muss berücksichtigt werden, dass das natürliche Abrollgeräusch der Reifen ab einer Geschwindigkeit von 20 km/h deutlicher zu hören ist. Ein künstliches Geräusch muss also insbesondere bei niedrigen Geschwindigkeiten greifen.

Eine entsprechende Verordnung muss auf europäischer Ebene erfolgen. Sowohl unsere Interessensverbände als auch die Automobilhersteller haben versucht, auf den Gesetzgebungsprozess der EU Einfluss zu nehmen. 2014 beschloss die EU bereits, dass ab Juli 2019 neue elektrische und hybride Fahrzeugtypen der Automobilhersteller mit AVAS ausgerüstet werden müssen. Modelle allerdings, die vor Juli 2019 auf den Markt kommen, dürfen auch weiterhin ohne AVAS in den Handel. Erst ab Juli 2021 benötigen dann auch die neuen Fahrzeuge dieser älteren Baulinien ein solches System. Das bedeutet, dass alle Elektrofahrzeuge bereits bekannter Baureihen, die auf den Straßen unterwegs sind, oder bis zum Jahr 2021 noch verkauft werden, nicht zwingend über AVAS verfügen müssen.

AVAS-Begrüßungsgeld
Die Bundesregierung fördert den Kauf von Elektro- und Plug-In-Hybridfahrzeugen mit einem AVAS im Rahmen mehrerer Programme.

Die verschiedenen Fördermöglichkeiten sind das Ergebnis eines Schlichtungsverfahrens über die Schlichtungsstelle nach § 16 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Beteiligte des Verfahrens waren der DBSV sowie das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU), das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI).

Das BMWi fördert den Kauf von Elektro- und Plug-In-Hybridfahrzeugen mit dem Programm "Umweltbonus". Die Kosten für ein AVAS werden bei der Förderung ab dem 1. Juli mit 100 Euro berücksichtigt. Anträge können beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) eingereicht werden.

Für den Ausbau der Elektrobusflotten und des Wirtschaftsverkehrs haben das BMVI die "Förderrichtlinie Elektromobilität" zur Beschaffung von Elektrofahrzeugen und der dafür erforderlichen Ladeinfrastruktur und das BMU das "Sofortprogramm Saubere Luft" und die "Förderrichtlinie Anschaffung Elektrobusse im ÖPNV" aufgestellt. Diese Förderprogramme ermöglichen eine Finanzierung von bis zu 80 Prozent der Mehrkosten. Die Kosten für ein AVAS werden dabei berücksichtigt.

Quelle: rehacare.de

Streitpunkt Pauseschalter für AVAS

Der Fahrer eines Fahrzeuges sollte, laut ursprünglicher Verordnung der EU, selbst entscheiden können, ob er das AVAS benutzen möchte, oder nicht. Hier stellt sich die Frage, warum eine Sicherheitseinrichtung an einem PKW optional sein sollte und nicht zwingend vorgegeben? Schließlich können wir nicht einfach das Bremslicht ausschalten, weil uns gerade danach ist. Die europäische Kommission hat letztlich diesen Schalter verboten, im Moment sieht es also so aus, als bliebe uns diese unsinnige Beschränkung des AVAS erspart.

Einige Automobilhersteller haben die lange Übergangszeit produktiv genutzt, ein Team von Sounddesignern auf ihre elektrischen Modelle loszulassen, um einen identitätsstiftenden, markanten Klang zu entwerfen, der alle Sicherheitsaspekte berücksichtigt. Das kann man ihnen kaum zum Vorwurf machen, erinnert doch das Referenzgeräusch, das im Rahmen des EU-Projektes erarbeitet wurde, eher an eine anlaufende Waschmaschine, erfüllt seinen Zweck, klingt aber furchtbar unattraktiv.

Künstlicher Sound ist keine Neuheit

Auf Außenstehende mag der Prozess, ein künstliches Geräusch für ein Auto zu kreieren, befremdlich wirken. Allerdings sind Sounddesigner bereits ständige Begleiter im Entstehungsprozess aller möglichen Produkte. Vom "Ploppen" einer Bierflasche beim Öffnen bis hin zum Betriebsgeräusch von Haushaltsgeräten wird nichts dem Zufall überlassen. Selbstverständlich wurden auch frühere Verbrenner klanglich optimiert, der Sound eines kernigen Sportwagens oder eines amerikanischen Motorrades sind Teil des Markenkerns. Was sich jetzt natürlich ändert, ist die technische Herangehensweise. Früher wurde an Materialien, am Motor oder Auspuff selbst herumgetüftelt bis nicht nur Funktion, sondern auch Sound stimmte.

Beim Elektrofahrzeug werden gezielt Lautsprecher und Computer eingebaut, um Geräusche zu erzeugen. Breitbandig sollen die Geräusche sein, also keineswegs ein homogener, an- und abschwellender Ton, sondern ein aus vielen, unterschiedlichen Klangbeispielen zusammengesetztes Konstrukt. Unser Gehör nimmt vielschichtige, heterogene Klänge sehr viel besser wahr als schmalbandige Einzeltöne. Da im Alter das Gehör hohe Töne nicht mehr gut verarbeiten kann, wird im Mittel- und Tieftonbereich gearbeitet, ein Spektrum, in dem Elektromotoren überhaupt nicht zu hören sind. Um die Vorgabe herum, sich am klassischen Sound eines Verbrenners zu orientieren, also einen Rückschluss auf die Art des Fahrzeuges zuzulassen, das sich da gerade nähert, sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Von einer schwingenden E-Gitarrenseite über einen Mix aus alltäglichen Elektrogeräten bis hin zu komplett im Computer synthetisierten Tönen kann in so ein Geräusch nahezu alles einfließen.

Soundanpassung an Umgebungsgeräusche

Selbst auf das Problem der Lärmentwicklung hat man eine Antwort gefunden. Sensoren außen am Fahrzeug nehmen permanent die Umgebungsgeräusche auf, ein kleiner Computer errechnet dann die notwendige Lautstärke, die das AVAS in der aktuellen Situation entwickeln muss, um über andere Geräuschquellen hinweg noch hörbar zu sein, also eine dynamische Anpassung der Lautstärke des Fahrzeuges. Das hat den Vorteil, dass in der Anfangsphase, in der sich die Stromer die Fahrbahn noch überwiegend mit Verbrennern teilen, die warnenden Geräusche lauter ausgegeben werden. Bei ruhiger Verkehrslage, z. B. nachts oder wenn die Anzahl elektrischer Fahrzeuge ansteigt, reicht auch ein leise abgespielter Ton. Wir kennen dieses dynamische Prinzip von neueren Ampelanlagen, die den Signalton für Blinde und Sehbehinderte an den Umgebungslärm anpassen.

Motorengeräusch warnt auch Sehende

Was in der Diskussion häufig vernachlässigt wird, ist die warnende Wirkung, die akustische Signale auch für sehende Verkehrsteilnehmer haben. Die Studien, die ein höheres Unfallrisiko für Hybridfahrzeuge und E-Autos aufgrund der mangelnden Hörbarkeit nachgewiesen haben, beziehen sich keinesfalls auf seheingeschränkte Personen. Quer durch die Bevölkerung kommt es zu mehr Unfällen, wenn sich ein Fahrzeug nicht akustisch ankündigt. Der Sehsinn ist selbst ohne Einschränkungen nicht immer ganz zuverlässig im Aufspüren von Gefahren. Schließlich haben wir ein 360°-Gehör, da kommt auch das Gesichtsfeld der besten Adleraugen nicht ansatzweise mit.

Ständig strömen Hörreize von allen Seiten auf uns ein. Unser Gehirn errechnet blitzschnell, ob es sich lohnt, den Blick auf eine Geräuschquelle zu richten. Zeugt das Geräusch von Gefahr oder nicht? Wie weit ist es entfernt, aus welcher Richtung nähert es sich und wie schnell? Reicht ein leichtes, interessiertes Drehen des Kopfes, oder ist bereits panisches Ausweichen angesagt? Das alles erreicht uns zuerst über die Ohren. Allerdings läuft das oft unter unserer bewussten Wahrnehmungsschwelle ab und der Sehsinn wird häufig intuitiv als der "wichtigste" benannt. Umso notwendiger ist es, AVAS als eine Sicherheitsmaßnahme für die gesamte Bevölkerung, nicht nur für seheingeschränkte Personen, zu begreifen.

Hört hört! Elektromobilität für die Umwelt

Nach jahrelangem Stillstand und zögerlichen Modellversuchen zeichnet sich ab, dass der öffentliche Nahverkehr eine wichtige Rolle spielt, möchte man Fahrverbote in unseren Städten durch radikale Senkung der Emissionen noch verhindern. Immer mehr Kommunen und Verkehrsgesellschaften stellen ihre Busflotten auf alternative Antriebssysteme, in aller Regel auf Elektroantriebe, um.

Der Elektroboom scheint, nach vielen Fehlstarts, endlich auf Touren gekommen zu sein. Die Atemluft in unseren Städten dürfte sich dadurch spürbar verbessern und ein wichtiger Schritt im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel ist es auch, insofern also eine Erfolgsgeschichte! Allerdings ist die Übergangsphase für blinde und sehbehinderte Menschen eine spannende, teilweise auch gefährliche Zeit. Hier müssen wir wachsam bleiben und auf Gefahren von annähernd lautlosem Verkehr weiterhin aufmerksam machen. Es lässt sich gut vermitteln, wie wichtig AVAS auch für die Sicherheit nicht seheingeschränkter Menschen ist und wie unser Gehör als hochentwickeltes Frühwarnsystem funktioniert. Gelingt es uns, diese Perspektive zu vermitteln, dürfte die Lobby, die AVAS nicht nur als Hilfe für seheingeschränkte Personen für wichtig hält, erheblich wachsen. Gestalten wir also eine elektrische Zukunft gemeinsam ... und am besten laut!

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